Den außersportlichen Kontext einmal ausgeblendet, lohnt es sich, den Fokus über die nackten Zahlen und Fakten hinaus auf die Athletinnen und Athleten mitsamt ihren jeweiligen Geschichten zu lenken. Denn auch wenn Deutschland im Medaillenspiegel mit 27 Podestplatzierungen auf Platz zwei rangiert und unsere sächsischen Teilnehmenden stolze acht Medaillen dazu beigetragen haben, steckt hinter jedem Edelmetall eine ganz individuelle Geschichte. Gleichermaßen wie auch hinter jedem vermeintlichen Misserfolg – ein Begriff, der leider nach wie vor pauschal für jegliche Leistung verwendet wird, die nicht den vorab gestellten Erwartungen in die jeweiligen Athletinnen oder Athleten gerecht wird – aus welchem Grund auch immer. Doch so einfach ist es nicht, erst recht nicht bei den Olympischen Spielen!

Treffend formuliert es auch der LSB-Vizepräsident Leistungssport, Klaus-Ulrich Mau: „Das Abschneiden unserer sächsischen Athleten ist sensationell und übertrifft all unsere Erwartungen. Damit hatte keiner gerechnet, selbst für meine Prognose auf fünf Medaillen wurde ich belächelt. Wichtig ist es nun, zum einen unsere Helden auch über den olympischen Moment hinaus in der Öffentlichkeit als Vorbild zu präsentieren und entsprechend zu ehren. Uns zum anderen aber auch vor diejenigen Athleten zu stellen und sie zu schützen, denen in Peking ein Fehler unterlaufen ist“.

Blicken wir zunächst aber auf die Ausgangssituation: insgesamt haben wir elf sächsische Wintersportlerinnen und -sportler in das Reich der Mitte geschickt. Und etwa mit Julia Taubitz als amtierenden Weltcupgesamtsiegerin im Rennrodeln, Bobdominator Francesco Friedrich sowie Eric Frenzel, dreifacher Olympiasieger in der Nordischen Kombination, auch auf die ein oder andere Medaille geschielt. Für die größten Überraschungsmomente sorgten in Peking hingegen ganz andere.

Überraschungs-Gold für Herrmann & Hennig

Endlich am Ziel ihrer Träume angekommen ist etwa Denise Herrmann. Während sie bei ihren ersten Winterspielen 2014 in Sotschi noch als Skilangläuferin an den Start gegangen war und als große Favoritin das ersehnte Edelmetall in einer Einzeldisziplin noch verpasst hatte, gewann sie nun etliche Jahre und Entbehrungen später völlig überraschend Gold im Biathloneinzel. Gut in die Saison gestartet, lief für die 33-Jährige in den Folgerennen nicht mehr wirklich viel rund. Doch pünktlich zum Höhepunkt lieferte sie bei ihrer dritten Olympiateilnahme ein nahezu perfektes Rennen ab und kürte sich über die 15 Kilometer zur Olympiasiegerin. Ein Coup, der in der Königsdisziplin im Biathlon zuletzt Andrea Henkel bei den Winterspielen 2002 in Salt Lake City gelungen ist. Das sogenannte i-Tüpfelchen auf den erfolgreichen Ausflug nach Peking setzte Denise Herrmann dann noch mit Bronze in der 4x6 Kilometer-Staffel der Frauen oben drauf.

Nicht weniger sensationell war der unerwartete Olympiasieg unserer sächsischen Skilangläuferin Katharina Hennig. Zusammen mit ihrer Teamkollegin Victoria Carl gewann die Oberwiesenthalerin im Skilanglaufzentrum von Zhangjiakou nur vier Tage nach der Silbermedaille mit der 4x5 Kilometer-Staffel der Frauen überraschend Gold im Teamsprint. Sie bewies damit nicht nur eine unfassbare Lauf- und Mentalstärke, sondern auch Flexibilität. Denn erst wenige Stunden vor Rennbeginn stand fest, dass Hennig nicht etwa mit ihrer Partnerin Katherine Sauerbrey ein Duo bildet, sondern mit der Thüringerin Carl ins Rennen geht. Beide Athletinnen wuchsen schließlich über sich hinaus und konnten ihr Glück auch Stunden später noch nicht glauben. Mit lauten Jubelschreien und strahlenden Gesichtern machten sie selbst Bundestrainer Peter Schlickenrieder kurzzeitig fassungslos. Es sind Bilder wie diese, welche den Sport in seinem Kern so einzigartig machen und nicht zuletzt auch bei jungen Nachwuchstalenten den Traum vom olympischen Edelmetall entfachen.

Historische Erfolge im Eiskanal

Diesen Traum ausleben kann inzwischen unser sächsischer Bobdominator Francesco Friedrich. Doch ein Selbstläufer ist der Erfolg auch für den 31-jährigen Pirnaer nicht. Friedrich gilt als Perfektionist und verfolgt seine Ziele geradlinig und mit höchster Professionalität. Zugleich bleibt er dabei immer auch Mensch, spürt die Nervosität vor dem Rennen und klebt sich als Familienvater das Foto seiner Liebsten in die Innenseite des Wettkampfanzugs. Vier Wochen lang war er von der Familie getrennt – eine Entbehrung, für die er sich schließlich mit Doppelgold belohnte. Indem er damit seinen Coup aus PyeongChang 2018 wiederholte, sorgte er für einen historischen Erfolg und schrieb sich in die Geschichtsbücher des olympischen Bobsports ein.

Möglich gemacht hat ihm das doppelte Gold-Double vor allem der enge Zusammenhalt in seinem Team. Ohne seine perfekt eingespielte Crew könnte auch der Bobpilot nicht abliefern. Und dabei spielt es auch keine Rolle, wer von seinen Anschiebern im „Bobteam Friedrich“ schlussendlich den Eiskanal hinunterrast. In Peking hatte sich Franz im Zweier für Thorsten Margis entschieden, im Vierer holte er sich seinen Oberbärenburger Vereinskollegen Candy Bauer, Thorsten Margis und Alexander Schüller in den Schlitten. Der Dresdner Martin Grothkopp unterstützte das Team dieses Mal im Hintergrund – und trug damit gleichermaßen zum Teamerfolg bei, wie die Männer auf der Bahn.

Ebenfalls historisch war auch das Ergebnis im Skeleton. Nach einem regelrechten Corona-Drama inklusive bangen Stunden im Quarantäne-Trainingslager unmittelbar vor den Spielen, konnte sich der zweimalige Skeleton-Weltmeister Axel Jungk gerade noch rechtzeitig freitesten und nach 2018 zum zweiten Mal ein olympisches Rennen bestreiten. Die Vorzeichen standen für den einstigen Skispringer alles andere als gut. Doch allen Strapazen zum Trotz behielt der 30-Jährige nicht nur die Nerven, sondern auch die Kontrolle über seinen Schlitten im Eiskanal des Yanqing National Sliding Center. Beim Olympiasieg des Thüringer Christopher Gotheer gewann Axel Jungk Silber und ließ spätestens bei der Siegerehrung mit einem eindrucksvollen Freudensprung den Emotionen freien Lauf! Zudem hatte er in diesem Moment Geschichte geschrieben – nie zuvor gab es im Skeleton eine olympische Medaille für Deutschland, mit dem Doppelsieg nun direkt zwei.

Corona-Drama um Eric Frenzel

Mit dem Happy End im Corona-Drama von Axel Jungk war der Spuk um das Virus für unsere sächsischen Starter jedoch leider noch nicht vorbei. Richtig gruselig wurde es vor allem für Eric Frenzel. Der Nordische Kombinierer wurde bei der Einreise nach Peking wie auch Teamkollege Terence Weber positiv getestet und in ein Quarantäne-Hotel verfrachtet. Unter nahezu menschenunwürdigen Bedingungen hauste er zunächst auf engstem Raum, bevor er seine Isolation in einem abgelegenen Quarantäne-Hotel irgendwo im Nirgendwo fortsetzen musste. Immerhin konnte er sich dort dann mit einem Radergometer fit halten – auf die eisigen Extrembedingungen auf der Rennstrecke vorbereiten konnte er sich fernab von Schnee und Skiern jedoch nicht. Auch mental setzte ihm die Isolation zu, wie auch soll ein Athlet so kurz vor seinem Ziel mit einer solchen Situation zurechtkommen?

Vier Jahre lang hatte er sich auf die Spiele vorbereitet – vielleicht seine letzten. Und dann muss er regelrecht dabei zusehen, wie ihm binnen weniger Tage all die Schinderei in einem Hotelzimmer eingesperrt zunichtegemacht werden droht. Nach elf Tagen dann die Befreiung – gedanklich schon fast wieder zu Hause, durfte Frenzel nach medizinischem Check-Up doch noch an den Wettkämpfen teilnehmen. Anders als Terence Weber, der mit der Nachnominierung von Manuel Faißt für das Einzel auf der Großschanze seinen Startplatz in Peking verloren hatte. Welch eine persönliche Enttäuschung! Eric Frenzel hingegen war für den Teamwettbewerb gesetzt – und hinterließ auf der Schanze mit einem starken ersten Satz einen guten Eindruck. Federn lassen musste er dann hingegen in der Loipe. Völlig entkräftet schickte er Schlussläufer Vinzenz Geiger in die Jagd auf das Führungs-Trio. Er selbst war so erschöpft, dass er nicht einmal mehr den Zieleinlauf und Gewinn der Silbermedaille mit ansehen konnte, auch die Blumenzeremonie verpasst er nach seinem Zusammenbruch. Umso größer war sein Strahlen dann bei der Medaillenübergabe am nächsten Tag.

Weniger Grund zum Strahlen gab es leider für drei unserer sächsischen Athletinnen. Nur eine Woche vor ihrem Olympia-Debüt war die erst 20-jährige Skispringerin Selina Freitag beim Weltcup in Willingen schwer gestürzt, konnte aber dennoch mit nach Peking reisen. Und nach Platz 22 im Einzel von der Normalschanze sogar leise von einer Medaille im Mixed Team träumen. Doch der Wettbewerb entpuppte sich als Albtraum für die favorisierten Nationen – gleich mehrere Athletinnen wurden wegen irregulärer Anzüge disqualifiziert. Unter ihnen auch Katharina Althaus – ein Schock für das deutsche Team, ein Schock für die Erzgebirgerin Selina Freitag.

Schrecksekunden nach Stürzen von Taubitz und Seidel

Und auch im Eiskanal sorgte eine sächsische Medaillenkandidatin für Schrecksekunden. Nach dem ersten Durchgang noch auf Goldkurs gelegen, zerschlugen sich für Rennrodlerin Julia Taubitz nach einem Sturz im zweiten Lauf sämtliche Chancen auf olympisches Edelmetall in Peking. War es beim Weltcup Anfang des Jahres noch die spätere Olympiasiegerin Natalie Geisenberger, die in der gefürchteten Kurve 13 zu Sturz kam, traf es dieses Mal die Gesamtweltcupsiegerin vom WSC Erzgebirge Oberwiesenthal. Am Ende kämpfte sich die 25-Jährige noch auf Rang sieben vor – eine Leistung, für es ebenso hohe Anerkennung bedarf, wie für jeglichen Erfolg auf dem Siegerpodest!

Für ihren Kampfgeist nicht belohnt wurde die einzige deutsche Shorttrackerin Anna Seidel. Bereits ihre Vorgeschichte zeigt, dass der Weg nach Peking mehr als steinig war – erst im März vergangen Jahres erlitt die Dresdnerin einen Schien- und Wadenbeinbruch, die Norm für Peking erfüllte sie nur zur Hälfte. Doch als sie dann tatsächlich auf dem Eis im Capital Indoor Stadium stand, will sie nur eins: bei ihrem dritten Olympiastart nicht stürzen! Doch das Glück war nicht an ihrer Seite. Bereits im ersten Lauf kommt sie zu Sturz und kracht in die Bande – rappelt sich aber auf und fährt das Rennen zu Ende. Was für ein Sportsgeist! Ausgeschieden ist sie aufgrund einer Disqualifikation trotzdem.

Letztlich gehört aber genau das zum Sport dazu: ein guter Athlet muss gewinnen, aber auch einmal verlieren können. Und ein einziger Wettkampf, wenngleich es die Olympischen Spiele sind, erlaubt es nicht, pauschal über Erfolg und Misserfolg urteilen zu können. Letztlich sind es auch die Niederlagen, an denen ein Sportler wächst. Eine solche kann gleichermaßen Antrieb sein wie etwa der historische Coup von Francesco Friedrich, der bereits jetzt an das dritte Double glaubt und akribisch dafür arbeiten will.

Großer Dank an alle Wegbegleiter

An dieser Stelle wollen wir nicht vergessen, wem die sportlichen Erfolge zusätzlich zuzuschreiben sind: allen voran den Familien unserer Athletinnen und Athleten, die jeweils große Entbehrungen auf sich nehmen, sowie sämtlichen Wegbegleitern, Unterstützern und Sponsoren. Nicht zuletzt ist es ihr aller Engagement, welches bedeutend dazu beiträgt, den Aktiven ein stabiles Umfeld sowie beste Bedingungen für den Sport zu schaffen. Häufig den intensivsten Anteil an der Entwicklung haben darüber hinaus definitiv die Trainerinnen und Trainer. Ohne deren akribisches Handeln und häufig auch ihrem psychologischen Feingefühl für die Situation, wären solche Erfolge undenkbar. An dieser Stelle gehört unser spezieller Dank explizit diesen wichtigen Menschen.

In einem ersten Fazit stellt auch Klaus-Ulrich Mau klar: „Das tolle Ergebnis für Sachsen hat gezeigt, dass die Leistungssport-Förderung im Freistaat funktioniert, hier gilt es jetzt weiterzumachen und zu analysieren, was der Wintersport anders macht als der Sommersport. Unsere Aufgabe ist es nun, den Sinn des Leistungssports gegenüber der Gesellschaft darzustellen. Unsere Spitzensportler haben deutlich mehr verdient als unseren kurzen Applaus auf der Couch. Es heißt nicht umsonst: Olympiasieger bist du für das gesamte Leben! Dem wird der Hype für wenige Minuten nicht gerecht. Den Heldenstatus gilt es über den olympischen Moment hinaus zu halten“.